Eine Begegnung der dritten Art

Ich hatte gerade meine Bestellung am Tresen abgegeben und trat ein paar Schritte zurück. Eine junge Frau kam heran und sprach die Bedienung an. Sie trug eine Maske und zwar völlig ordnungsgemäß (wie ich das bei wenigen sehe), die Flügel der Maske blähten sich und zogen sich mit ihrem Atemholen zusammen. Ob sie mit ihrer Freundin drinnen auch ohne Maske sitzen könne, sie sei auch geimpft und getestet, sie fragte dann die Bedienung, ob die das sehen wolle und zückte schon ihr Portemonnaie. Die Bedienung verstand erst nichts und winkte dann ab.

Jetzt hätte ich mich auch über das Verhalten der jungen Frau ärgern können, das hätte ich in vielen Situationen auch gemacht. Gestern war ich aber in einer besonders milden Stimmung und sprach sie an: „Das ist manchmal ganz schön anstrengend, oder?“

Lebhaft nickte sie und es entstand ein geradezu freundliches Gespräch. Wir tasteten uns sogar auf vermintes Gelände vor, sprachen über Solidarität und nichts flog uns um die Ohren. Ich meinte nur, da würde ich mich sehr gerne einmal länger mit ihr unterhalten, mir rutsche gerade der Begriff Solidarität so zwischen den Fingern durch. Dann verabschiedeten wir uns voneinander – ebenfalls sehr freundlich.

Ich war stolz auf uns, dass wir diese Brücke beschritten haben. Letztlich müssen wir alle ja zusammen weiter leben, Geimpfte, Ungeimpfte, Überzeugungstäter aller Richtungen.

Natürlich wird das gerade unglaublich schwer gemacht. Die Impfapartheid scheint bereits in alle Richtungen gut zu funktionieren, die einen wollen auf keinen Fall mit den anderen irgendetwas zu tun haben.

Es wird aber nicht anders gehen. Wir können zwar unsere Blasen pflegen, aber wohl keine binnenstaatliche Protektorate oder Ghettos entwickeln, dazu ist schlicht die Streuung der Menschen zu groß.

Ich hätte mich wirklich gerne über Solidarität unterhalten. Es scheint da aktuell nur eine ganz enge Definition zugelassen: „Solidarisch ist, wer sich an alle Regeln hält, unsolidarisch ist, wer sich an Regeln nicht hält“.

Natürlich muss hier eingewendet werden, dass Regeln sinnvoll oder sinnlos oder sogar gefährlich sein können und es eine individuelle Abwägung geben muss, welchen Regeln gefolgt werden kann. Das soll aber hier gar nicht mein Punkt sein. Mich hat der Vorwurf, ich sei unsolidarisch, unter all den Vorwürfen in dieser Zeit am stärksten gewurmt. Sogar auch dann, wenn ich erkennen konnte, dass der Vorwurf als Gesprächsabbruch genutzt wird, weil sich jemand nicht weiter auf eine Diskussion einlassen möchte.

Bin ich vielleicht unsolidarisch? Ich war bisher immer voll davon überzeugt, dass ich solidarisch fühle, denke und handele, aber in dieser verwirrten Zeit lohnt es sich wahrscheinlich, noch einmal etwas genauer hinzuschauen.

Würde ich mich so engagiert und gegen massivste Widerstände für einen Protest gegen die Massnahmen einsetzen, wenn ich unsolidarisch wäre? Ich bekomme viel Gegenwind, habe ständig Ärger mit der Polizei und der Justiz. Unsolidarisch wäre ich wohl dann, wenn ich mich nur um mich kümmern würde, meinen persönlichen Vorteil im Blick hätte und mir andere Menschen egal wären. Das ist aber bei mir definitiv nicht der Fall.

Vielleicht wirkt hier ja auch ein Stück weit eine berufliche Deformation. Als Psychologe habe ich vier Jahrzehnte gelernt, dass es ziemlich hilfreich sein kann, auch unangenehme Wahrheiten zu kommunizieren. Und das tue ich jeden Tag als Mensch mit freiem Gesicht in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Das tue ich auch in vielen, vielen Gesprächen – unter vier Augen ebenso wie auf einer Demo am Mikrofon.

Und es ist sicher unbequem zu hören, dass die Regierung uns wahrscheinlich systematisch belügt – nicht erst seit Corona; dass die meisten Medien nur das veröffentlichen, was ihre reichen Besitzer erlauben; dass eine Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Corona-Massnahmen nicht nach objektiven, wissenschaftlichen Kriterien durchgeführt wird.

Ist also nach der Neusprech-Defintion unsolidarisch, wer eine offizielle Lüge als Lüge bezeichnet? Nach meiner Definition bin ich dann und dort solidarisch, wo ich – nach Abwägung aller mir zur Verfügung stehenden Informationen – das Wohl möglichst vieler Menschen im Blick habe und mein Verhalten danach ausrichte.

Und das tue ich nach besten Wissen und Gewissen.

Hier stehe ich und kann nicht anders.

Ein tiktok-Video geht gerade viral…
https://vm.tiktok.com/ZMR8WfB2u/